NACHTRAG zum Iran – Eindrücke eines Schulmorgens

NACHTRAG zum Iran – Eindrücke eines Schulmorgens

In der Mathematik-Olympiade 2017 erreichte Deutschland den 33. Platz, der Iran den 5. Platz.

Rezah, der Besitzer unserer Unterkunft ist Geographie-Lehrer an einer High-School und ein unkomplizierter und vielfältig interessierter Zeitgenosse. Am Abend frage ich ihn nach einer Möglichkeit, einmal eine iranische Schule zu besuchen, am nächsten Morgen um 8:00 Uhr schüttle ich dem Direktor der Marefat Varzaneh High-School die Hand.
Es ist die Jungen-Schule der Kleinstadt, da die Erziehung, wie das halbe Leben in diesem Land streng nach Geschlechtern getrennt abläuft. Nach der kurzen, sehr herzlichen Begrüßung bringt mich Rezah mit dem Direktor zu einem Klassenzimmer, in dem gerade Mathematik-Unterricht stattfindet. Die 13 Schüler sitzen in zwei Reihen ganz eng am Zimmerende beieinander, dann ist der Raum sehr, sehr leer und vorne steht der Lehrer, unter den Porträts von Chomeini und Chamenei, die hier mit scheinbar milder Strenge das ganze Land überwachen. Alle Schüler stehen sofort auf, als unsere kleine Delegation den Raum betritt und der Direktor ein paar Worte sagt. Der Mathematik-Lehrer Hosein Ahmadi ist ein junger Mann, der nun von seinem Glück erfährt, dass ein deutscher Kollege ein wenig hospitieren wird. Er spricht so viel Englisch wie ich Persisch (keines) und trotzdem (oder deshalb?)  sind wir uns sofort sympathisch. Er bleibt entspannt und ruhig bei der Sache, lässt sich durch meine Anwesenheit nicht stören – und zerstört gleich meinen falschen ersten Eindruck: „puh ist das eine brutale Distanz zwischen Lehrer und Schülern“.
Es ist eine 11. Klasse, im vorletzten Schuljahr, und kaum ist die Tür geschlossen und die kleine Delegation verschwunden herrscht eine sehr angenehme Atmosphäre in dem Raum. Ich beantworte ein paar Fragen der Schüler zu Deutschland und meinem Leben, dann wird wieder normal gearbeitet. Es ist so eine ruhig-konzentrierte Atmosphäre mit kleinen Späßchen und wertschätzendem Umgang, dass ich gleich wieder fünf Euro in die Vorurteils-Box schmeißen möchte. Der Unterricht ist sehr traditionell – der Lehrer erklärt kurz etwas zum Limes, was ich nur deshalb verstehe, da die Symbolik der Mathematik so schön international ist – dann wird gerechnet. Phasen des Entdeckens, Problemlösens, eigenen Erkennens gibt es nicht. Natürlich frage ich mich sofort, ob die Schüler das mit so einer kurzen, schnellen Erklärung verstehen können und beantworte die Frage innerlich mit „Nein, meine SchülerInnen könnten das nicht“. Ein Schüler muss eine neue Aufgabe an der Tafel vorrechnen. Er macht das ohne Nervosität und auf einem Niveau, dass ich nur staunen kann. Ich schaue, wie und was die anderen für sich rechnen und komme zu dem Schluss, dass die mathematischen Anforderungen in diesem Bereich höher sind als bei uns und die handschriftliche Rechenfertigkeit besser ausgeprägt ist als beim Großteil meiner SchülerInnen.


Das sage ich auch den Schülern und will von ihnen wissen, was für sie guter Mathematik-Unterricht ausmacht. Der Tenor ist ein ehrlich gemeintes „Guter Unterricht ist, wenn Hosein Ahmadi ihn macht“, mit Ernsthaftigkeit, Strenge und guten Witzen. Mir reicht das als Erklärung für ihr hohes Niveau nicht aus und durch Nachhaken erfahre ich, dass sie in ihrer Freizeit eigentlich nichts anderes machen als Lernen. Im nächsten Jahr sind die Abschlussprüfungen und im Anschluss daran ein landesweiter Aufnahme-Test für die Universitäten. Und dieser Test entscheidet zentral über die beruflichen Perspektiven. Alle sehen in einem guten Studium ihre Chance auf ein besseres Leben. Und dafür büffeln sie schon zwei Jahre vorher: In den Ferien gibt es kommerzielle Mathe-Kurse. Aus dieser Klasse nehmen 100% der Schüler mehrmals an diesen Kursen teil! Alle wollen so sehr und bemühen sich so unglaublich, das berührt und beeindruckt mich tief. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich mit all unseren didaktischen Konzepten und Kniffen nie solch eine Motivation werde erzeugen können, wie ich sie hier vorfinde, geschaffen von den äußeren Bedingungen und dem unbedingten Willen zur Bildung.


In der Pause im Lehrerzimmer wollen die Kollegen beim feinen Tee aus Gläsern wissen, wie die Bezahlung in Deutschland ist. Sie selbst verdienen nach 20 Berufsjahren mit einem Master-Abschluss ca. 500 US-$ im Monat, etwas mehr als der Durchschnittslohn. 30 Jahre nach Beginn der Lehrer-Tätigkeit können sie in Pension gehen. Nach der Pause freut sich der Englisch-Lehrer über einen englischsprachigen Gast und ich rede mit den Schülern, nachdem die Schüchternheit überwunden ist sehr offen kurz über die Welt und lange über die großen Unterschiede unserer Kulturen im Umgang zwischen den Geschlechtern.  Für dieses 16 bis 18 jährigen Jungen einer ländlich und sehr traditionell geprägten Kleinstadt sind fremde Mädchen im Alltag nicht vorhanden. Kontaktmöglichkeiten gibt es praktisch nicht und wenn es an der Zeit ist, sucht die Mutter eine Braut für den Sohn.
Diese Söhne überreden mich zur großen Pause mit ihnen Volleyball zu spielen, das ist der National- und Pausensport. Und weil nicht jeden Tag ein Lehrer aus Almanya in der Pause Volleyball spielt, schaut dann auch mal die ganze Schule zu – und so spiele ich plötzlich vor der größten und wohlwollendsten Zuschauerkulisse meines Lebens…

There are 3 comments for this article
  1. Uwe Maier at 10:14 am

    Spartanische Klassenzimmer und strenge Regeln – trotzdem sind die Schüler super motiviert und können nach ihrem Abschluss auch tatsächlich etwas, zumindest in Mathematik. Und unsere Schüler? Nicht alle, aber viele sind desinteressiert, übersättigt, haben kaum Motivation und leben eigentlich nur für die Zeit außerhalb der Schule. Der wirkliche Wert von Bildung wird unterschätzt. Was machen wir Pädagogen falsch? Oder können wir es auch gar nicht besser machen, weil gegen die Rahmenbedingungen, die unsere Schüler prägen, nicht anzukommen ist? Die theokratisch geformte gesellschaftliche und politische Konstruktion des Iran kann wahrlich kein Vorbild sein. Es ist eine Diktatur. Aber vielleicht sind unser Schulsystem und die Schüler, die wir haben, eben auch ein Teil des Preises für ein freiheitliches Leben.

  2. marc at 3:40 pm

    die mathematik ist international verständlich… nur die deutschen werden diese sprache bald nicht mehr verstehen… den formalismus (!) auf deinen fotos kann man unseren schüler*innen nicht mehr zumuten!

  3. Renate at 10:07 am

    Als ich 1972/73 in die Oberstufe ging war unser Interesse, so schnell wie möglich selbständig sein zu dürfen und unabhängig Entscheidungen für das eigene Leben treffen zu können.
    Finanzielle Unabhängigkeit war eine entscheidende Vorraussetzung für Freiheit.
    Es gab aber kaum Möglichkeiten für Schüler nebenher Geld zu verdienen und die Abhängigkeit von den Eltern war daher sehr groß. Die Jobs bekamen die Studenten in den Semesterferien und nur mit sehr großem Einsatz konnte man als Schülereventuell einen Sommerferienjob ergattern.
    Es gab also nur eine Alternative:
    Viel zu lernen
    -um eine gute Lehrstelle zu bekommen ( = finanzielle Unabhängigkeit)
    – um ein Studium aufnehmen zu können ( = war zwar finanziell eng aber räumliche Freiheit)
    die extrinsiche Motivation war sehr hoch

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