Die Reise hat uns noch höher hinausgeführt – höher in den Norden und höher in die Berge. Wir sind in El Cocuy, einem weiteren dieser malerischen kleinen Dörfer, wie sie hier überall verstreut zu liegen scheinen. Wieder weiß getünchte Häuser mit roten Ziegeln, diesmal allesamt mit grünen, Sockeln, Fensterläden und Balkonen. Der Ort ist im üblichen Schachbrettmuster angelegt und besteht aus höchstens fünf Straßen in jede Richtung – ein Bergdorf umgeben von steilen, grünen Hängen. Es liegt eine schier unglaubliche Stille in der klaren, kühlen Luft.
El Cocuy ist Ausgangsort für Wanderer, die den Nationalpark „Sierra Nevada El Cocuy“ erkunden wollen, wo die wirklich hohen, von Gletschern bedeckten Berge auf über 5.300m aufragen – höher als alles, was es in Europa gibt. Da wollen wir hin.
Nach einem Tag und einer Nacht in El Cocuy fahren wir mit einem Jeep noch weiter hinauf in die Berge, laufen die letzten Kilometer zu unserer Unterkunft zu Fuß, um uns an die Höhe von immerhin schon 3500m zu gewöhnen. Weit verstreut liegen die Höfe. Auf den steilen Hängen weiden Kühe und Schafe. Die Bauern bewegen sich auf Pferden oder Motorädern fort. Mann, Frau, Kind – alle tragen Ponchos aus Schafwolle, die Jugendlichen auch über Jeans, Kapuzenshirt und Turnschuhen. Der Poncho ist neben dem breitkrempigen Hut das wichtigste Utensil, denn am Tag knallt die Sonne (zumindest jetzt im Sommer) und wenn diese zwischen fünf und sechs am Abend untergeht wird es bitterkalt. Die Bauern führen in dieser Höhe ein karges Leben, das uns aber unendlich friedlich und genügsam scheint. Die Landwirtschaft bietet ein bescheidenes Auskommen – die Kommune sorgt für die Landbevölkerung zumindest insoweit, dass alle Höfe an das Stromnetz angeschlossen sind und alle Kinder in die Schule gehen können – und müssen.
Irgendwo in der Landschaft steht eine kleine Kapelle, daneben ein überdachter Sportplatz und ein Häuschen mit einem kleinen Laden – unsere Unterkunft für heute. Hier treffen sich am Sonntag die Bauern aus der Umgebung nach dem Gottesdienst auf ein Schwätzchen und ein Bier – natürlich alle in Poncho und Hut.
Um fünf Uhr morgens brechen wir auf; ein langer, steiler Aufstieg in einer Höhe, wo uns schon manchmal die Atemluft knapp wird – dafür aber durch eine grandiose Landschaft: „Páramo“ nennt sich diese typisch andine Vegetationszone mit ihrem ganz eigenen Bewuchs, v.a. den seltsamen Frailejones. Um neun Uhr erreichen wir bei brennender Sonne und eisigem Wind unser Ziel, die Laguna Grande am Rande des Gletschers auf 4.600m Höhe (Natürlich schmelzen auch diese Gletscher rapide ab und sollen Wissenschaftlern zufolge in 10 Jahren bereits ganz verschwunden sein.)
Das Betreten der Gletscher und damit auch der Aufstieg auf die diversen Gipfel ist zu Simons großem Bedauern in diesem Schutzgebiet verboten – und zwar, weil der ewige Schnee für die dort ansässigen Ur-Einwohner, den Stamm der U’wa heilig ist. Der Staat hat in langwierigen Verhandlungen mit den U’wa ein Abkommen geschlossen, das uns lediglich erlaubt auf drei ausgewählten Pfaden bis an den Gletscherrand zu gehen. Mir persönlich reicht das völlig aus – am spannendsten sind Landschaft und Vegetation ohnehin, bevor wir in die Eis- und Felszone vorstoßen. (Ganz anders die überwiegend kolumbianischen Besucher des Nationalparks, denen es v.a. darum geht, am Gletscherrand einmal im Leben Schnee zu sehen und anzufassen…)
Außerdem verlangt das Reglement des Nationalparks, dass alle Wanderer einen Guide mitnehmen müssen. Für die Orientierung hätten wir den 18-jährgen Jhon (sic!) nicht gebraucht – eine interessante Begegnung war es aber allemal.