Sylvester und Neujahr wollen wir im Dschungel verbringen. In einem viertägigen Fussmarsch soll es zur „ciudad perdida“ gehen. Die Tour gilt als eines der Trecking-Highlights in Kolumbien: Vier Tage auf Schlammwegen durch den Urwald, durch Flüsse waten, langsam hinein auf die Berge des Nationalparks der „Sierra Nevada de Santa Marta“. Ein Gebirge, dessen höchster Gipfel, der Pico Cristobal Colon fast 5800 Meter hoch und keine 50 km von der Karibikküste entfernt ist. Begleitet nur von den Geräuschen des Urwaldes, dem Murmeln der Bäche, den Rufen der Vögel, dem Klappern der Schlangen, dem lieblichen Schlagen der Schmetterlingsflügel … und dem süßen Summen der Moskitos. Und das alles mit dem Ziel einer vor 500 Jahren verlassenen Stadt auf ca. 1000 m Höhe, die vor 30 Jahren wiederentdeckt wurde und von der hiesigen Tourismus-Branche auch gern mit Machu Pichu verglichen wird. Mit dem einzigen Unterschied: es gibt keinen anderen Weg in die „ciudad perdida“, als den über Mückenmittel, Sonnenschutz und Schweiß in rauen Mengen.
Längst ist die Tour natürlich kein Geheimtip mehr, sie wird überall beworben. Vier verschiedene Tour-Anbieter dürfen Gruppen führen, alleine ist der Zutritt nicht möglich. Es gibt nur den einen Weg, hin und zurück, der Rest des gesamten Gebietes ist indigene Schutzzone.
Am Morgen des Aufbruchs brechen auch Luckis und Steffis Magen auf und die beiden brechen ab, bevor es losgeht. Joel und ich fühlen uns gut und wollen unbedingt Indiana Jones spielen. Unsere Gruppe besteht aus Nick, einem stillen netten Australier, Sandra und Samuel, einem kanadischen Pärchen mit schweizer und US-amerikanischen Wurzeln. Beide auch sehr angenehme freundliche Menschen. Glück mit der Gruppe. Mit dem Führer Marco geht es in einem Geländewagen auf einem Schlammweg hinein in die Berge, durch Flüsse, über Stock und Stein, immer weiter, immer wackelnd, immer mit großem Vertrauen in die Auto-Ingenieure…
Am Mittag geht es dann auch richtig zu Fuß los. Außer unserer Gruppe gehen ungefähr zeitgleich noch weitere 40 Leute los … Hm. … Ich erfahre, dass mittlerweile jährlich über 20.000 Besucher die Tour machen, spüre den Stolz des Führers auf diese Zahl und rechne diese auf die Tage runter … und habe dazu andere Gefühle als der Führer. Unser Glück, dass wir über Sylvester laufen, sonst ist hier gerade (Dez – Feb) die absolute Hochsaison und eigentlich wäre es viel voller.
Egal. Wir laufen und sofort beginnt auch der Schweiß zu laufen und die Leute verteilen sich dann doch so, dass man sich auch einsam fühlen kann. Hier am ersten Tag sieht man noch vereinzelte Behausungen, den eigentlich Nationalpark ohne (Nicht-Indigene)-Zivilisation betreten wir erst Morgen. Trotzdem ist der Wald immer wieder schon so, wie Urwald sein soll, wie wir das aus den Tropenhäusern unserer Zoos der Kindheit kennen:
Üppig und wuchernd, riesenhaft die Farne, solch eine Vielfalt an Formen, Größen und Strukturen der Blätter, alles feucht, die Bäume hundertfach bewachsen mit anderen Pflanzen, immer wieder leuchtend rote Blüten, manch ein Schmetterling oder auch Vögel … dann die glucksenden Rufe dieser Vögel, das gurgeln der Bäche, die wir immer wieder über- oder durchqueren. Zwischendurch haben wir immer wieder Blicke auf die uns umgebenden Hügel und Wälder. Einerseits sind da auch die grünen Wände, voller Schlingpflanzen, Lianen und Bäumen, Bäumen, Bäumen, die sich immer Höher ziehen, und in den Wolken verlieren.
Andererseits sieht man hier auch noch sehr viel kahle Flächen auf den Hängen, die einst kultiviert wurden. Auf einzelnen ist Vieh zu sehen, der Großteil ist aber leer, oft wirkt es wie verbrannt.
Es wurde auch verbrannt. Die Koka-Pflanzen, die hier in großen Mengen angebaut wurden. Hier war eines der großen Anbaugebiete, früher für Marihuana, dann für Kokain. Die Koka-Pflanze wächst nur auf 500-1500 m Höhe in tropischem Klima – genau da sind wir. Plötzlich ist dieses ganze Thema Kokain aus Kolumbien nicht mehr nur ein fernes Nachrichten-Thema, oder eine spannende Netflix-Serie, sondern so ganz real. Ein Großteil der Leute, die uns hier führen, die uns bekochen, die uns die Unterkünfte stellen … haben bis vor wenigen Jahren von der Drogen-Herstellung gelebt.
Wir erreichen unsere erste Unterkunft „Casa Adan“. Befestigte Böden mit schlichten Dächern, darunter moskitoumspannte Hängematten, einfache Betten und Kochvorrichtungen, um alle Gruppen zu bekochen. … Kochen … ja, vorher wurde hier auch gekocht, das war eine dieser Dschungel-Küchen, dieser versteckten Laboratorien, in denen die Koka-Blätter zur Koka-Paste verarbeitet wurden. Der „Inhaber“ von damals („Adan“) ist auch heute noch hier, ein alter, senil wirkender Mann. Laut unserem Führer hat er damals schon Touren zu seiner Küche angeboten, wo man sehen konnte wie Kokain angebaut wird und dazu noch ein kleines „Free Sample“ erhielt. Seiner eigenen Aussage nach aus Erziehungszwecken, um zu erfahren wie schädlich das Ganze ist
Unser Führer zeigt uns auch ein paar Koka -Pflanzen, die es weiterhin in kleinen Mengen gibt. Die indigene Bevölkerung darf diese für sich natürlich weiter nutzen. Am nächsten Tag sehen wir auch eine Indigina (immer in ganz schlichten weißen Umhängen, sehr scheu, aber auch erhaben wirkend), die mit ihren Kindern Koka-Blätter pflückt.
Leider bricht mein Magen mit der Ankunft in der Unterkunft auch zusammen. Die Nacht verbringe ich auf dem Klo. Ich versuche am Morgen noch der Gruppe zu folgen, merke aber nach einer Stunde, dass ich zu schwach bin. Joël überzeugt mich, dass es besser ist umzukehren und begleitet mich netterweise. So geht uns die verloren Stadt verloren, ein wenig haben wir am Abenteuer geschnuppert, was der Weg noch ergeben hätte? Wir wissen es nicht. Aber wohl keine größeren Tiere, selbst die Affen meiden inzwischen das Gebiet aufgrund der großen Menschenmengen…
Was wir uns fragen: Der Führer meint, zur Herstellung von 1g Kokain benötig man 1 kg Koka-Blätter.
In Deutschland wurde dieses Jahr so viel Kokain sichergestellt wie nie zuvor, 7 Tonnen oder so, in Kolumbien selber wurden 400 Tonnen Kokain vernichtet … Und das ist alles nur das sichergestellte. Was müssen das immer noch für riesige Anbaugebiete sein? Wo ist das alles? Warum scheint das ganze Drogengeschäft nach dem Friedensprozess eher zu wachsen, als zurückgedrängt zu werden? Wie kann eine Regierung das bekämpfen und den Bauern Alternativen anbieten, wenn es nicht gerade eine „ciudad perdida“ um die Ecke gibt?