Im Tal ist Medellin eine richtige Stadt, hässlich, ohne wirkliches Zentrum, ohne Altstadt-, Kolonial- oder anderen Charme, Hochhäusern und zu viel Verkehr. Dagegen haben sie eine gute Metro gebaut, modern und klug und voll genutzt. Dann gibt es Wohnviertel wie unseres (Laurelis), die sind praktisch und ruhig und richtig nett. Mit Cafés und Straßen und Häusern und Menschen wie wir sie von daheim kennen. Das ist auch mal wieder schön, fast vertraut, entspannend.
Und dann kommt die dahingegossene Backstein-Würfel-Welt. So weit das Auge reicht, die Hänge rauf rotbraun gescheckt, aus der Nähe: Backstein-Lego in epischen Ausmaßen. Ich kann mich daran nicht satt sehen. Und darin dann die Seilbahnen. Einen Bergrücken rauf, ins Nachbartal runter und den nächsten Rücken wieder hoch. Drei Tage lang fahren wir Seilbahn. Ich freue mich daran wie ein Kind und Steffi freut sich an der Stadtpolitik („Gewalt und Innovation„). Unsere Freude trifft sich am Übergang von den Barrios in die dahinterliegende Bergwelt. Da ist dann noch mehr Schweiz, an die ich hier denken muss, nach den Seilbahnen, den als geschäftstüchtig geltenden „Paisas“ und dem immer etwas nebulösem Reichtum, der sich bisweilen so schlecht von intransparenten Geldströmen krimineller Herkunft trennen lässt.
Die Umgebung ist so schön, wie nur die Bergwelt es kann, mit Tälern, Rücken, Gipfeln, Wäldern auf bis 2500 Metern. Da wollen wir gleich raus und loswandern. Aber hier gibt es keine „raus und loswandern“-Kultur. Da geht höchstens der Campesino noch hoch zu seiner Finca, der kennt den Pfad, aber sonst gibt es keinerlei Wege. Wanderwege? Was ist das?
Und da kam vor ein paar Jahren der Bürgermeister Anibal Gaviria Corea (oder eine einflussreiche Einflüsterin) auf die großartige Idee: Wir legen eine grünen Gürtel um die Stadt. Ein Netz aus Fahrrad und Wanderwegen, oberhalb der Barrios, das irgendwann einmal die ganze Stadt umrunden soll. So soll gesunder und schöner Bewegungsraum zugänglich gemacht werden, der vor der Haustüre liegt. Den Leuten soll der Zugang zur Natur erleichtert werden, sie sollen sich aus ihren Barrios raus bewegen können, oder mit den Seilbahnen aus der Stadt durch die Barrios an den Stadtrand gebracht werden.
Steffi hat dieses wunderbare Projekt im Internet gefunden und am nächsten Tag sind wir dort, wo ein Anfang gemacht ist. Im Osten der Stadt, da werden drei Barrios über die Wege dieses „grünen Gürtels“ miteinander verbunden. Und diese sind in einem super Zustand. Mit Bewohnern aus den Barrios werden hier absolute Premium-Wege angelegt, traumhafte Panorama-Wege mit grandiosen Blicken auf und über die Stadt. Mit Brücken, Geländern, bepflanzten Hochbeeten, kleinen Wäldchen, Aussichtspunkten und Picknickplätzen…. Da könnte man Eintritt verlangen, so schön ist das gemacht.
Außer uns sind leider wenige Leute unterwegs. Irgendwann treffen wir Giselle. Sie begleitet uns ein Stück und erklärt uns Zusammenhänge, Geschichte, Probleme… des Projektes und der Barrios. Die Wege haben neben dem Freizeit und Erholungsaspekt noch eine weitere wichtige Funktion: Früher gab es zwischen den Barrios „unsichtbare Grenzen“ – Grenzübertritte der Jugendlichen verliefen durch Bandenkriege oft tödlich. Der Versuch die Barrios über hochwertige Wege zu verbinden, die auch von vielen anderen Stadtbewohnern genutzt werden hat sich bisher bewährt. Es gab in den letzten Jahren keine großen Zwischenfälle mehr – aber auch hier natürlich v.a. durch ein Zusammenspiel von viel Sozialarbeit und hoher Polizei-Präsenz. Und während sie das erzählt gesellt sich auch noch ein Sicherheitsmensch zu uns, mit schusssicherer Weste, wie sie hier alle tragen und begleitet uns auch noch ein paar Kilometer. Das ist hier seine Aufgabe. Aber in den drei Jahren, seit er das macht gab es noch keinen Zwischenfall.
Leider hat die neue Stadtregierung das Projekt auf Eis gelegt. Klar, die Umrundung der kompletten Stadt ist eine visionäre Illusion, das wäre nicht machbar und finanzierbar. Aber nun scheint das ganze Projekt enorm zusammengestrichen zu sein. Vielleicht verbleibt es nur bei diesem einen kleinen Teilstück. Wie unendlich schade!
Wir ersteigen noch, ganz ohne Sicherheitsbegleitung, den „Pan de azucar“, den hiesigen Zuckerhut mit seiner über der Stadt schwebenden Jungfrau. Auch hier sind nur ein paar Jugendliche, die Jungs aus den Barrios … Als wir sie fragen, ob sie ein Foto von uns machen können, spielen sie mit den Klischees über sich: „Klar, aber dann klauen wir euch dafür das Handy“, lachen und zeigen uns mit Stolz ihr Barrio und die tolle Sicht über die ganze Stadt.