Ich erinnere mich an die letzten Kilometer des Marathons, den ich vor knapp 20 Jahren in Köln lief: bei jedem Schritt hatte ich das Gefühl, mir sticht jemand mit dem Messer in den Oberschenkel, bei jedem zweiten Schritt dachte ich „oh, ich höre auf, so ein Scheiß“, bei dem anderen ging es gerade wieder so, dass ich doch noch einen weiteren machen konnte. Und damals waren da die Massen an Zuschauern auf den letzten Kilometern zum Dom, die ein Aufgeben nicht akzeptiert hätten, und die mir immer mal wieder ein herrliches Kölsch hinhielten…
Jetzt ist da niemand. Nur mein Führer, der in Zeitlupen-Tempo Schritt vor Schritt setzt. Wir sind auf 5500 Meter Höhe, es ist sooo langsam, ich überlege ob ich beim Steigen mal kurz die Augen schließen kann, um einen Wanderschlaf zu halten, ich bin so müde, es ist so anstrengend. Und es ist natürlich trotzdem irgendwie zu schnell. Eigentlich wäre das einzig Schöne jetzt, umzudrehen und mich sofort ins Bett zu legen. Ich denke an Steffi, texte ihr innerlich schwachsinnige Vallenato-Lieder „Wie dumm bin ich, hier einen Tag ohne dich sein, ich vermisse dich, du bist mein einzig Glück und nicht der Berg hier, der hat mich verführt und ich bin hereingefallen, ich will zurück zu dir, was träumst du wohl gerade?…“ Gefühlt texte ich so eine Stunde vor mich hin, der Blick auf den Höhenmesser zeigt 5550 Meter. Puh, es fehlen noch immer über 300 Höhenmeter bis zum Gipfel… Humboldt kam nicht bis hier, er hat ein paar hundert Meter weiter unten abgebrochen … ich war noch nie so hoch … ich sag dem Führer jetzt, dass ich nicht mehr mag und wir den Mist hier lassen sollen…
Es ist 5 Uhr morgens und wir steigen bereits seit 5 Stunden praktisch ohne Pause auf.
Da sagt der Führer zu mir: „So, jetzt kommt das steilste und anstrengendste Stück, die letzte Rampe, von der ich euch gestern erzählt habe. Aber dann haben wir es geschafft“. Ich bin zu schwach um zu protestieren, sitze kurz auf meinem Eispickel und führe mir irgendwelche Kohlenhydrate zu. Denke wieder an Steffi, vermisse sie und erinnere mich aber auch an eine unserer Akklimatisations-Touren: „Warum musss man auf diese Scheiß-Berge überhaupt rauf …. Ich muss das nicht … das ist viel zu kalt hier … nie wieder mach ich so was“ – ihre Worte, über die wir im Nachhinein lachen müssen und jetzt meine Gedanken. Aber ich weiß auch um dieses Gefühl, wenn man dann eben trotz dieser Empfindungen hochkommt, diese Mischung aus Glück, Stolz, Freude, Begeisterung über die Aussicht, diese Adrenalin-Schwemme, die einen innerlich jubilieren lässt. Also weiter: Schritt, Pause, Schritt, Pause …
Nach drei Touren zum Training, eine bereits über 5000 Meter auf den Illiniza-Norte, mit einer Nacht auf 4600 m Höhe, sind wir gestern in einer Dreier-Gruppe auf das Refugio José-Ribas auf knapp 4800 m mehr gefahren als gestiegen. Der Holländer Matthew, ein blonder, strahlender Mittzwanziger, Weltreisender, der sich sein Geld durch Aktienhandel verdient und Linda, eine Dänin, etwas schwerfällig, erst seit ein paar Tagen Quito mit wenig Akklimatisation. Mit uns zwei Führer, da eine Seilschaft aus maximal drei Personen besteht. Linda hat fast das Doppelte bezahlt, da sie einen Führer für sich alleine möchte. Damit ist klar, dass Matthew und ich eine Seilschaft bilden – und die Regeln des Tour-Anbieters sind klar: Kann ein Teammitglied nicht mehr, dann steigt die gesamte Seilschaft ab. Matthew und ich sind stillschweigend froh darüber, dass Linda einen eigenen Führer hat. Mich kränkt es trotzdem, dass er am Abend dann doch noch fragt, wie es wäre, wenn ich nicht mehr könne, ob ich dann mit Linda und ihrem Führer absteigen kann … in der Regel sind nur 50% der Gipfel-Versuche erfolgreich.
Die Hütte ist den Umständen entsprechend komfortabel, Fahnen aus aller Welt mit beglückten Besteigungen zieren die Wände, an zentraler Stelle eine von Fortuna Düsseldorf, von der niemand genaueres weiß. In der kurzen Nacht von 19-23 Uhr kann ich praktisch nicht schlafen, ein Cocktail aus Kälte, Respekt, fehlendem Sauerstoff lässt die Kopfmaschine kreisen. Mit uns sind noch ca. 5 andere Seilschaften aus aller Herren Länder auf der Hütte. Mehr oder minder um Mitternacht brechen wir alle auf. Ein Treck von den kleinen Lichtchen der Stirnlampen verteilt sich über die erste Flanke unterhalb des Gletscherbeginns. Durch den Vollmond sind diese allerdings fast nicht notwendig. Der nächtliche Aufbruch ist dem Gletscher geschuldet, wenn am Tag die Sonne scheint, wird dieser so weich und matschig, dass das Vorwärtskommen schwer und gefährlich wird.
Nach einer halben Stunde meldet sich Matthew mit Unwohlsein, nach einer Stunde, wir haben den Gletscherrand noch nicht erreicht, muss er sich übergeben – typisches Phänomen der Höhenkrankheit. Da wir noch nicht am Gletscher sind, der Weg leicht zu finden ist und von unten noch weitere Seilschaften nachkommen, macht der Führer eine Ausnahme. Wir müssen nicht alle drei umkehren. Matthew geht alleine zurück – ich bin ihm unheimlich dankbar dafür, dass er nicht sagt, er versucht es noch ein wenig weiter und wir dann in zwei Stunden alle umkehren müssen.
Am Gletscher seilen wir uns an, und ziehen die Steigeisen an. In den kommenden Stunden überholen uns andere Seilschaften und wir wieder diese, immer sind wir in engem Kontakt mit Linda und ihrem Führer. Durch spektakuläre Gletscherbrüche winden wir uns diesen perfekten Kegel langsam hoch. Das Mondlicht auf dem weißen Schnee beleuchtet die Szenerie märchenhaft, in der Ferne die schwarzen Silhouetten der weiteren Kegel dieser „Straße der Vulkane“, wie Humboldt diese Landschaft begeistert nannte.
In der letzten halben Stunde bevor wir den Kraterrand erreichen wechselt das Licht, die Sonne übernimmt von Osten, während der Mond sich im Westen schlafen legt. Ich nehm‘ diesen wundersamen Wechsel noch wahr, spüre die Erschöpfung, aber spüre auch, dass mein Körper in Ordnung ist und keine größeren Zeichen von Höhenproblemen zeigt.
Um ca. 6:30 Uhr haben wir es geschafft, wir stehen am Krater. Leider ist dieser gerade in Wolken, die Sicht gleich Null. Schade, aber vollkommen egal. Linda und ich beglückwünschen uns begeistert, unsere Führer sind eher abgebrüht. All die Schwere fällt ab, das Adrenalin spült meinen Körper, der Abstieg geht im Flug in ca. 1,5h, alles ist leicht und schön. Vor allem nun die Aussicht. Die Sonne bescheint die ganze Welt, hinter dem weißen Horizontes unseres Gletschers erstreckt sich unendlich weit das karge ocker-gelb-grün-braune Land. Es fühlt sich tatsächlich ein wenig an, als würde ich vom Himmel herabsteigen… schweben… wunderbar.
Irgendwann wird mir klar, dass vor uns niemand auf dem Gipfel war und auch während des Abstiegs begegnet uns nur eine weitere Seilschaft ca. 1h unter dem Gipfel mit einem grüngesichtigen Teilnehmer… Wie wir unten in der Hütte erfahren, haben tatsächlich alle anderen Seilschaften abgebrochen. Linda und ich waren am Ende tatsächlich die einzigen Nicht-Führer, die an diesem Tag ganz oben dem Himmel so nah waren.
Und Steffi? Steht solidarisch früh auf und sieht und fotografiert den wunderbaren Cotopaxi in seiner ganzen Pracht in der Früh, während ich gerade eine meiner größten körperlichen Herausforderungen glücklich beende.