80 Fragen, Antworten, die Reise, Iran

Wie ist die weltliche und religiöse Macht organisiert und wie zeigt sich das? Wird z.B. die Schariah angewandt? (Rolf)

Wir haben zu der Frage nicht umfassend in verlässlichen wissenschaftlichen Quellen recherchiert, sondern einfach mal zusammengetragen, was uns dazu begegnet ist in Gesprächen und Beobachtungen. Natürlich sind unsere Gespräche nicht repräsentativ, weil wir uns ausführlicher nur mit denen unterhalten können, die englisch oder deutsch sprechen, also gut ausgebildet und weltoffen sind.

Politische und religiöse Macht:
Auf nationaler Ebene gibt es zwar ein gewähltes Parlament und einen gewählten Präsidenten (derzeit Rouhani, davor Ahmadinedschad.), die eigentliche Macht liegt aber in den Händen des religiösen Wächterrats. Dieser kontrolliert, dass alle Entscheidungen, Initiativen und Gesetzesvorhaben der Regierung konform mit islamischem Recht in einer sehr konservativen Auslegung sind. So verhindert der Wächterrat regelmäßig liberale Reformprojekte durch sein Veto. Dessen oberster Führer war früher der Ayatollah Khomenei, jetzt ist es seit vielen Jahren Chamenei. Ebenso muss er die Kandidaten für die Parlaments- und Präsidentenwahl billigen, so dass hier nur genehme Kandidaten überhaupt antreten können. Daher halten die meisten Menschen, mit denen wir gesprochen haben auch recht wenig von der derzeitigen gemäßigten Regierung (O-Ton: Rouhani ist auch einer von denen, sonst wäre er gar nicht in dieser Position) und die Wahlbeteiligung ist demenstprechend gering. Die wahre Opposition ist nicht politisch vertreten.
Auf kommunaler Ebene wiederholt sich dasselbe Muster: Es gibt zwar einen gewählten Bürgermeister, dieser wird aber gebilligt und überwacht von einem Geistlichen, der in der Gemeinde als Vertreter des Wächterrats fungiert. Dieser hält auch im Rahmen der Freitagsmoschee jeden Freitag seine politischen Predigten und Hetzreden (Tod den USA usw..). Wir haben mit niemandem gesprochen, der die Freitagsmoschee besucht; vielmehr haben uns selten so viele Menschen ungefragt versichert, dass sie gar nicht religiös seien – und jede und jeder erzählt uns in den ersten fünf Minuten des Gesprächs, dass sie vollständig gegen das System sind und dass im Iran überhaupt fast jeder gegen das Regime ist.
Wie und warum hält sich das Regime dann an der Macht? Die Erklärung unsere vielen Gesprächspartner: mit Geld und Härte
Härte: Demonstrationen werden mit der vollen Gewalt des Staates brutal unterdrückt, wie z.B. nach der Wiederwahl von Ahmadineschad in 2009, aber auch bei Studentenprotesten vor vier Jahren. Dabei gab es viele Todesopfer und Arrestierte, die mittlerweile seit Jahren im Gefängnis sitzen
Geld: insbesondere die ungebildete, ländliche Bevölkerung wird mit kleinen Posten in das System eingebunden und mit Unterstützungszahlungen alimentiert. Daher war es für das Regime auch alarmierend, dass vor kurzem nicht nur die Liberalen/Studenten etc. zu Demonstrationen aufgerufen haben, sondern auch die eigentlichen Anhänger des Regimes wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage auf die Straße gingen.

Schariah:
Entgegen den Vorstellungen, die wir im Westen oft von der Schariah haben, ist dies keinesfalls ein Gesetzbuch (a la 10 Gebote) in dem drakonische Strafen wie Hand abhacken etc. festgeschrieben sind. Schariah bedeutet lediglich das Prinzip, dass die Rechtsprechung vereinbar sein soll mit den religiösen Regeln des Islam – und ist damit natürlich völlig offen für jede Art von Auslegung. Im Iran ist diese Auslegung eben sehr konservativ, was z.B zur Folge hat, dass Frauen und Männer im Familienrecht sehr unterschiedlich gestellt sind. Die drakonischen Strafen werden allerdings nur noch sehr zurückhaltend verhängt. Vor Monaten ging wohl ein Fall landesweit durch die Medien, weil ein Richter verfügt hat, dass einem Wiederholungstäter vier Finger einer Hand abzuhacken seien. Es ist also nicht an der Tagesordnung, kommt aber vor!

Wie äußert sich das alles im Alltag?
– Unsere Gesprächspartner senken immer sofort die Stimme, wenn es um politische Themen geht, äußern sich dann aber sehr gern und ausnahmslos kritisch zum System.
– Die Medien und das Internet sind kontrolliert und gefiltert, das erfahren wir am eigenen Leib (z.B. sind bei der Google-Suche bestimmte iranischen Persönlichkeiten geblockt). Aber jeder der will, kann dies mit kleinen technischen Tricks umgehen – und dies wird auch massenhaft genutzt. So informieren sich praktisch alle unsere Gesprächspartner über BBC, die 24-Stunden Nachrichten auf Persisch sendet.
– Alles, was Spaß macht ist im öffentlichen Raum verboten: Musik hören, Musik machen, tanzen, die Begegnung von Mann und Frau außerhalb der Familie, Alkohol sowieso. Aber wir hören und erleben, dass die Menschen durchaus ihre Räume finden, um Spaß zu haben, v.a. auf privaten Parties. Insbesondere die jungen Leute betonen, dass es doch sogar mehr Spaß macht, wenn es verboten und damit ein bisschen riskant ist… (wobei sich die polizeiliche Verfolgung solcher Amüsements in den letzten Jahren wohl in Grenzen hält)
– Viele Frauen pochen heutzutage auf einen Ehevertrag, der ihre Rechte gegenüber dem Mann stärkt, v.a. im Falle einer Scheidung. Womöglich ist das sogar üblicher als bei uns, da oft nicht aus Liebe/ Verliebtheit geheiratet wird, sondern mit relativ kühlem Kopf (diese Theorie fußt aber nur auf einigen wenigen Gesprächen!)
– praktisch alle jungen und gut ausgebildeten Leute, mit denen wir sprechen, wollen weg aus dem Iran, zum Teil wegen der eingeschränkten Freiheiten (dies betonen oft die Mädchen), vielfach aber auch wegen der wirtschaftlichen Perspektiven – und haben dabei ein unheimlich idealisiertes Bild von Europa und insbesondere Deutschland.

Stefanie

1 Comment

Rolf Oswald

Vielen dank für diese Erläuterungen. Es ist beruhigend, wenn die Bevölkerung im Iran den konservativen Rechtsregeln selbst skeptisch gegenüber steht. Trotzdem ist die Rechts- und Alltags Benachteiligung der Frauen wohl immer noch eklatant. Ich lese gerade „Eskandar“ und da sind die Zustände durchgängig mittelalterlich.
Euch weiterhin viele interessante Erlebnisse
Rolf

Reply

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert