Meine Schwester ist Mitglied bei Citibike. Urbanes Bike-sharing, wie wir es aus vielen Großstädten kennen, jezt auch in New York. Ausgestattet mit Apps und Tipps mache ich mich auf, um Manhattan einmal von Nord nach Süd mit dem Fahrrad zu durchfahren.
Auf den 20 Kilometern zwischen Harlem und der Südspitze durchquere ich eine Vielzahl von Klima- und Vegetationszonen – urbane Lebensräume für so ziemlich jede menschliche Spezies.
Was ich dabei gelernt habe (von Nord nach Süd):
- In Harlem findet das Leben auf der Straße statt. Die Menschen sind nicht so gehetzt wie die Büromenschen aus Midtown. Stattdessen dient der Gehweg zum Schwatzen, Lachen, Zöpfe flechten. Und: hier trifft man auch wieder auf die Elenden und Gestrandeten der Gesellschaft, die ich im letzten Beitrag schon voreilig vermisst gemeldet hatte.
- Der Cental Park ist groß genug, dass er die friedliche Ko-Existenz sehr unterschiedliecher Spezies ermöglicht: Büromenschen mit Sandwich in der Hand und Handy am Ohr; professionelle Dog-Sitter mit bis zu sechs Hunden an der Leine; Studi-Lerngruppen; Fahrrad-Rikschas; gestylte Girls, die offensichtlich auf Ihre Entdeckung als Model warten, Eichhörnchen, Streifenhörnchen…
- Auf der Upper-Website lebt man eher indoor: Die Wohnhäuser sind prunkvoll, die Straßen wirken seltsam unbelebt.
- Midtown – Lebenraum für Zugvögel: Hier spuckt die Grand Central Station jeden Morgen Tausende von Menschen aus, die sich in Ihre glitzernden Bürotürme kämpfen. Die Spezies ist unter Stress; die Ressourcen Zeit und Raum sind knapp – das Überangebot an steril verpackter Nahrung kann dies nicht ausgleichen. Die Spezies zeigt alle Symptome von Überlebenskampf: Tunnelblick einschalten, Ellenbogen raus, bloß nicht stehenbleiben, niemanden angucken, schnell zum nächsten Meeting, vorher noch kurz ein Coffee-to-Go. Jedes Hindernis ein Ärgernis… Alles in allem ein ungemütliches Habitat für Fahrradfahrer: Ich bin das personifizierte Hindernis!! Schnell weg hier…
- Der Hudson River Bikeway – hier sind mein Fahrrad und ich genau richtig: eine breite Fahrradspur in jede Richtung, rechts der Hudson River, links die unendlichen Steinmassen der Stadt. Hier treffe ich viele Artverwandte, auf zwei Beinen, zwei Rollschuhen oder zwei Rädern.
- Zwischen Lower West und Lower East Side – meine persönliche Wohfühlumgebung: Hier sind die Häuser niedriger, die Straßen grüner, die Läden bunt und die Leute wahlweise skurril oder entspannt, meistens beides. Es finden sich Cafés, die keiner Kette angehören und Menschen die sinnlose, aber schöne Dinge tun, z.B. einen Laternenmast mit Mosaiksteinchen bekleben.
- Das Financial District ist das natürliche Territorium für lichtscheue Gewächse. Die Bürotürme sind so hoch, die Straßenschluchten eng, so dass kein Sonnenstrahl den Boden erreicht. Tagsüber ist die Gegend von Bankmenschen bevölkert, die sich jedoch abends weitgehend in ihre angestammten Lebensräume in anderen Regionen zurückziehen. Kurzes Innehalten am Ground Zero, dem Areal zum Gedenken an die Opfer des 11. September 2001.
Angekommen an der Südspitze Manhattans, im Battery Park mit Blick auf Freiheitsstatue und Ellis Island: Vor hundert Jahren war genau hier die Einflugschneise für all die Menschen, deren Nachkommen diese Stadt heute so bunt und voll, anstrengend und großartig machen.